Freiheit Gottes und Freiheit des Menschen
Liebe Gemeinde,
nicht zu fassen. Was über sie kommt, lässt die, die
es mit ansehen, verstört und fassungslos, völlig verwundert und ratlos
zurück. Nicht zu fassen, was geschieht. Sie reden so, dass jede und
jeder in ihrer und seiner Sprache angesprochen wird. Wann war das
eigentlich zum letzten Mal so, dass Menschen einander unmittelbar
verstehen konnten? Ihre Erinnerung muss weit zurück gehen, an den Ort am
Anfang, als alle Menschen eine Sprache hatten, ein und dieselben Worte
(Gen 11,1).
Diese Zeit ist lange vorbei. Seitdem haben sie
schmerzlich erfahren müssen, wie mühsam die Suche nach den richtigen
Worten ist, in einer fremden, aber auch in der eigenen Sprache. "Was ist
die richtige Sprache, Mama?" fragt meine Tochter, die gerade lesen
lernt.
Was ist die richtige Sprache? Ich verstehe, wonach mein Kind
mich fragt. Was ist die Sprache hinter den Worten, die Sprache, die alle
verstehen können, die Sprache, die verbindet, statt zu trennen und
heilt, statt zu verletzen? Lange, sehr lange hat sie niemand gehört.
Hier und jetzt ist es endlich soweit. Sie hören sie in ihrer eigenen
Sprache reden. Sie verstehen sich. Nicht zu fassen.
Was
geschieht, schlägt den Bogen zurück in eine Vergangenheit, in der die
Worte verstehbar waren. Was über sie kommt, verbindet Menschen
unterschiedlicher Abstammung und Herkunft zu einer Gemeinschaft. Auch
das ist schon einmal so gewesen, als Gott sich den zwölf Stämmen Israels
zeigte am Berg Sinai und aus den vielen das eine Gottesvolk wurde. Sie
waren beieinander, unterschiedlich nach Abstammung und Herkunft, und
wurden eins.
Hier und jetzt wiederholt sich, was damals geschah.
Nicht zu fassen, nicht in Dinge und Begriffe, nur in Vergleiche. Ein
Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, Zungen wie von Feuer.
Es kommt über sie. Sie lösen sich aus dem, was sie bindet, sie
überwinden, was sie trennt, sie werden frei. Es ist Gottes Freiheit, die
über sie kommt, die Freiheit dessen, der sich erbarmt, wem er will.
Nicht zu fassen ist dieser Gott, nicht in Dinge zu zwingen oder auf
Bilder festzulegen. Ein Gott, der seine Freiheit nicht dazu gebraucht,
sich zu entziehen, sondern sich zuzuwenden. Ein Gott, dessen grenzenlose
Freiheit in der Lage ist, die Grenzen unter den Menschen aufzuheben.
Erlösen und versöhnen statt binden und trennen. Ihr seid keine Knechte,
je einzeln gehalten und gebunden, ihr seid Kinder, einander eng verwandt
und doch frei.
Seit sie über uns kam, leben wir in dieser
Freiheit, als Kinder, nicht als Knechte. Wir sind nicht gehalten, etwas
zu tun, um einmal frei zu werden. Wir sind frei. Gut möglich, dass wir
dieser Freiheit so fassungslos und ratlos gegenüber stehen, wie die, die
uns beobachten. Es gibt nichts zu tun - nicht zu fassen. An diesen
Gedanken muss man sich erst einmal gewöhnen. Was soll das bedeuten?
Es bedeutet: Du bist frei von Angst. Die Stimme, die dir wieder und
wieder sagt: Das reicht nicht, das ist nicht genug oder war nicht gut
genug, schweigt. Die inneren Antreiber verstummen endlich. Die Freiheit
von Angst kann auch Trost genannt werden. In diesem Trost kannst du
leben und sterben.
Es bedeutet weiter: Was du tust, willst du tun.
Niemand zwingt dich dazu. Weil es nichts zu tun gibt, suchst du dir
selbst deine Aufgabe. Du hast die Freiheit, ja und nein zu sagen. Du
entscheidest, was und wie viel du von dir gibst und es wird mehr sein,
als du vielleicht selbst für möglich hältst. Du gibst dich, nicht so,
wie man seine Steuern zahlt, sondern als ob du Geschenke machst.
Bist du frei von Angst? Willst du tun, was du tust? Es ist nicht zu
fassen, in welche Freiheit uns Gottes Zuwendung führt. Überall da, wo
Angst und Zwang herrschen, ist Gott nicht, denn wo der Geist des Herrn
ist, da ist Freiheit (2. Kor 3,17).
Ein Feuer in drückendem Dunkel,
ein Wind in stickiger Enge. Keine Angst mehr und kein Zwang. Momente, in
denen das Wirklichkeit wird, gibt es.
Wir leben in einem Land, in
dem das geschehen ist, in dem das drückende Dunkel dem Glanz der vielen
Kerzen nicht standhalten konnte, in dem ein Wind aufkam, der die
Veränderung mit sich brachte. "Auf alles waren wir vorbereitet, nur
nicht auf Kerzen und Gebete" lässt Erich Loest in seinem Roman
"Nikolaikirche" einen Stasi-Offizier sagen.
Die Erfahrungen, die wir
seitdem machen, zeigen aber auch, wie wenig fassbar und wie gefährdet
die Freiheit ist, in die uns Gottes Geist führt. Sie ist über uns
gekommen und wir kommen nicht hinterher. Ein Feuer, das verlöscht, ein
Wind, der sich legt, neue Ängste und neuer Zwang. Leben als Knechte und
Mägde statt als Söhne und Töchter. Wir haben als Menschen, die aus dem
Osten und Westen Deutschlands zusammenkommen, immer noch große
Schwierigkeiten, einander zu verstehen, obwohl wir sogar eine gemeinsame
Muttersprache haben. Die Frage meiner Tochter ist auch in diesem
Zusammenhang schon oft meine Frage gewesen: Was ist die richtige
Sprache, die Sprache, die verbindet, statt zu trennen, die heilt, statt
zu verletzen?
Und doch erlebe ich auch, dass heute geschieht, was
damals geschehen ist. Menschen unterschiedlicher Herkunft verstehen
einander. Wir fragen uns: Sind wir frei von Angst? Wollen wir tun, was
wir tun? Welchen Trost können wir weitergeben, was ist die Aufgabe, die
wir uns suchen?
Schon dass wir das überhaupt tun, an Trost denken
angesichts einer bedrückenden Wirklichkeit, an Aufgaben angesichts
wachsender Resignation, lässt andere ratlos werden: Was ist über euch
gekommen? Seid ihr etwa betrunken? Es ist immer noch nicht zu fassen.
Amen.